Bach 10K
Klanginstallation im Augsburger Gaskessel
Gesteuert durch das 70 Meter lange Pendel erklingen die Töne von Bachs C-Dur Präludium in hypnotischer Langsamkeit.
Synchron zur Pendelperiode von 17 Sekunden baut sich das Stück Note für Note über eine Zeit von 10.000 Sekunden auf. Daraus leitet sich auch der Name des Projekts ab – 10k als technische Abkürzung von 10.000.
Ausgehend vom Grundklang des C-Dur-Akkords entwickelt sich der Klangraum über einen Wechsel von spannungsvollen und reinen Harmonien zum Schlussakkord über dem mächtigen Basston der etwa fünf Meter hohen C-Pfeife. Auch wenn die Veränderung der Pendelebene, hervorgerufen durch die Rotation der Erde, dem Auge verborgen bleibt, macht die sich beständig ändernde Harmonik die Bewegung unseres Planeten sinnlich erfahrbar.
Als Klangerzeuger dienen 58 Orgelpfeifen, die rings um die zentrale Plattform im Strebenwerk des Gaskessels aufgestellt sind. In zehn Gruppen stehen die Pfeifen in jedem zweiten Feld der Stahlträgerkonstruktion. Verankert in eigenen Stahlrohrrahmen, die wiederum mit den Streben des Behälterdeckels verbunden sind, bilden die Pfeifengruppen einen neuen architektonischen Akzent im Behälter. Der gesamte Gaskessel wird zur Klangskulptur.


Jede Pfeife wird von einem eigenen in der Windlade angeordneten Magnetventil betätigt, das von einer zentralen Steuereinheit geschaltet wird. Zur Synchronisation der Töne mit der Pendelschwingung werden elektrische Signale verwendet, die zur Überwachung und Energieversorgung des Pendels bereits vorhanden sind. Das Pendel wird zu einem gigantischen Metronom.
Handwerklich perfektes Pfeifen-Recycling
Der Münchner Orgelbaumeister Markus Harder-Völkmann übernahm die Realisierung des akustischen Teils der Installation. Auch wenn der Aufbau des Klangkörpers sehr unkonventionell ist, verbirgt sich in der Technik traditionelle Handwerkskunst auf hohem Niveau. Die aufwändige elektro-pneumatische Betätigung der Tonventile macht die Installation robust genug für den langjährigen Dauerbetrieb.
Wir benutzten gebrauchte Pfeifen verschiedener außer Betrieb genommener Kirchenorgeln, die bis zu 100 Jahre alt sind. Ergänzt durch neu gebaute Pfeifen entsteht ein Instrument von fast sechs Oktaven Tonumfang.
Nach dem Umbau ist aus den ehemaligen Kirchenorgel-Pfeifen ein einmaliger Klangkörper geworden, der das 84m hohe Gasometer zu einer begehbaren Klangskulptur macht.
Eine Symbiose aus Klang und Raum
Orgelpfeifen übertragen die Schwingungen der in ihrem Resonanzkörper angeregten Luftsäule an die Umgebungsluft. Unterstützt durch die verteilte Aufstellung der Schallerzeuger entsteht ein reichhaltiger Raumklang, der sich nicht mit einer Lautsprecherbeschallung vergleichen lässt. Für die Installation wurden Pfeifen in „Prinzipal“-Bauweise gewählt, die sich durch einen grundtönigen Flöten-ähnlichen Klang auszeichnen. Sie erzeugen am Beginn des Tons ein charakteristisches Anblasgeräusch.
Die Akustik des Gaskessels ist gekennzeichnet durch ein hartes Echo am Behälterdeckel und einen extremen Nachhall von etwa 16 Sekunden, der durch die zahlreichen Reflexionen an Behälterwänden und diffuse Schallstreuung an Tragkonstruktionen ein ungewöhnliches, sich veränderndes Obertonspektrum erzeugt.
Zufällig entspricht die Nachhallzeit ziemlich genau der Pendelperiode. Das Zeitmaß von Musik, sichtbarem Metronom und körperlich erfahrbarer Dynamik des Schallfeldes stimmt perfekt überein.
Die Intonation der Pfeifen ist auf diese Verhältnisse abgestimmt: Die perkussiven Anblasgeräusche setzen im Wechselspiel mit dem Raumecho Akzente in der kontinuierlichen Klanglandschaft. Der Hall gibt den Tönen eine Entwicklung. Die Resonanz des Behälters lässt die Harmonien mit einander verschmelzen.
Nach Experimenten mit der von extremen Raumresonanren geprägten Akustik des Scheibengasbehälters entschieden wir uns für eine diatonisch reine Stimmung in C-Dur.
So erklingen die Grundharmonien des Stücks verstärkt durch Obertoneffekte und angeregte Subharmonische im Klangraum besonders klar, während die von Bach in der Modulation eingesetzten dissonanten Akkorde körperlich spürbare Schwebungen erzeugen.
Auf paradoxe Weise kann so die verfremdete Wiedergabe der musikalischen Intention des Komponisten näher kommen als die gängige Aufführung auf modernen Instrumenten.
Eine einmalige Erfahrung
Das Foucault-Pendel im Augsburger Gaskessel ist mit einer Pendellänge von ca. 70 Metern eines der längsten aktiven Pendel der Welt (einige Meter länger als das berühmte Original im Pariser Panthéon). Daraus resultiert eine extrem langsame Pendelbewegung – rund 17 Sekunden für eine vollständige Schwingung.
Dem langsamen Schweben der beleuchteten Pendelkugel zuzusehen, hat eine geradezu hypnotische Wirkung. Der physikalische Effekt des historischen Experiments dürfte den meisten Beobachtern jedoch entgehen: Da die Erde mit uns um das in der Pendelbewegung verharrende Objekt rotieren, scheint sich die Pendelebene im Laufe der Zeit zu drehen. Allerdings dauert eine komplette Rotation etwa 32 Stunden. Bis eine Abweichung mit bloßem Auge sichtbar wird, vergeht viel Zeit. Bach_10k macht den Zeitmaßstab auf andere Weise sinnlich erfahrbar: Mit jeder Note dreht sich die Welt um 0,05 Grad. Über den musikalischen Umweg wird das Ohr zum physikalischen Präzisionsmeßgerät.
Die Struktur des Stücks verschwindet in der Verlangsamung um mehr als das Hundertfache gegenüber dem Originaltempo. Dennoch erfährt der Zuhörer den musikalischen Spannungsbogen, den der geniale Komponist in der einfach strukturierten Tonfolge angelegt hat – vielleicht sogar noch intensiver als im normalen Vortrag. Auch ohne musikalisches Vorwissen oder gar die Kenntnis des Notentextes, ist die harmonische Evolution des Klangraums körperlich spürbar.
Das Stück besteht aus einer Folge von nacheinander angeschlagenen Dreiklängen, die im regelmäßigen Takt die Harmonie wechseln. Dabei wechselt harmonische Spannung und Entspannung etwa alle 10 Minuten. Der Besucher erfährt die musikalische Entwicklung und wird neugierig auf die nächste harmonische Auflösung der aufgebauten Spannung. Der warme Grundklang der Pfeifen lädt zum Verweilen ein.
Durch die Strapaze des Aufstiegs und durch den erstaunlichen Ausblick vom Dach des Gaskessels, dem zweithöchsten Bauwerk Augsburgs, wird die Dimension körperlich erfahrbar. Beim Betreten des Innenraums wird auch das aus trockenen technischen Daten kaum zu erfassende Volumen des Baukörpers erlebbar: Die 100.000 Kubikmeter Luft füllen sich mit Klang.
Video
Eine vollständige Performance von Bach_10k dauert knapp drei Stunden, für die Klangerfahrung ist eine solche Ausdauer jedoch nicht erforderlich.
Dieses Video vermittelt in der zehnminütigen Kurzversion einen Eindruck von der harmonischen Architektur des Stücks. Was sich leider nicht vermitteln lässt, ist der körperliche Eindruck, den der Besucher erfährt, wenn er sich im Klangraum aufhält und bewegt.
Informationen für Besucher:innen
Adresse: August-Wessels-Straße 30, 86156 Augsburg-Oberhausen
Sie können die Klanginstallation kann im Rahmen der Führungen durch das Industriedenkmal Gaswerk besuchen.
Nähere Informationen finden Sie auf den Seiten des Vereins der Gaswerksfreunde: https://gaswerk-augsburg.de